„Ein Schriftgelehrter hatte ihrem Streit zugehört; und da er bemerkt hatte, wie treffend Jesus ihnen antwortete, ging er zu ihm hin und fragte ihn: Welches Gebot ist das erste von allen? Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden. Da sagte der Schriftgelehrte zu ihm: Sehr gut, Meister! Ganz richtig hast du gesagt: Er allein ist der Herr, und es gibt keinen anderen außer ihm, und ihn mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer.“ (Mk 12,28-33)
Liebe Schwestern, liebe Brüder,
vor kurzem wütete in der Karibik und in Nordamerika der Sturm „Sandy“. Die Meteorologen gaben bereits einige Tage davor eine Warnung aus und die einzelnen Länder konnten sich mehr oder weniger – entsprechend den Möglichkeiten – darauf vorbereiten. Die Behörden stellten alles in Alarmbereitschaft; die einzelnen Menschen, die ihre Häuser verlassen mussten, standen vor der Überlegung, was nehme ich mit, was lasse ich hier? Alle wurden mit der Frage nach dem Wichtigsten und Wesentlichen konfrontiert. Von allen wurden Entscheidungen gefordert, die den Betroffenen die Sicherheit und eine möglichst gute Zukunft garantieren sollen. Trotzdem sind in den USA und in Kanada fast hundert Menschen ums Leben gekommen. Haben diese Menschen die Warnung zu wenig ernst genommen? Haben sie geglaubt, dass es nicht so schlimm sein wird, weil sie schon öfters in der Gegend einen Wirbelsturm erlebt haben? Oder haben sie sich von ihrem Hab und Gut nicht trennen wollen und dadurch etwas wichtigeres – das Leben – aufs Spiel gesetzt?
Für uns kann eine solche Situation ein Anstoß zum Nachdenken sein, über das Wesentliche in unserem Leben. Denn diese Frage beschäftigt nicht nur den Schriftgelehrten aus dem heutigen Evangelium. Sie beschäftigte bis heute die Generationen aller Epochen. Sie wurde im Laufe der Zeit unterschiedlich beantwortet und manchmal hat man das Gefühl, dass einige noch immer eine Antwort darauf suchen. Die Meinungsforscher, die aufgrund von Befragungen ihre Thesen und Entdeckungen formulieren, würden z. B. sagen, dass das Wichtigste eine gut funktionierende Gesundheitsvorsorge und Freunde, die zu einem stehen, sind.
Ich glaube aber nicht, dass diese Frage durch die Meinungsforscher beantwortet werden kann. Denn über das Wichtigste im Leben lässt sich nur schlecht abstimmen. Das Wesentliche im Leben lässt sich nur dort erspüren, wo man die tiefsten Sehnsüchte des Menschen wahrnimmt. Saint-Exupéry formulierte diese Weisheit mit den Worten: „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“ (Der Kleine Prinz, XXI).
Und genau auf diesem Hintergrund sind die heutigen Lesungen zu verstehen. Nur wer bereit ist, auf sein Herz zu hören, wer imstande ist, sich von dem Rundherum nicht ablenken zu lassen, kann begreifen, warum der Weg zum Leben weder an der Liebe zu Gott noch an der Liebe zu dem Nächsten vorbei führt. Warum zu den Nächsten?
Weil die scheinbare Liebe zu Gott ohne die Liebe zum Nächsten nur eine Ansammlung von Ritualen und Gebeten wäre. Die scheinbare Liebe zu Gott, ohne die Liebe zum Nächsten würde Menschen zu Fanatikern machen, die bereit wären, im Namen der Religion andere zu opfern.
Und warum zu Gott? Die scheinbare Menschenliebe ohne die Gottesliebe wäre eine geldabhängige Sozialversorgung. Die scheinbare Menschenliebe ohne die Gottesliebe führt zu einer Klassengesellschaft, in der die Schwachen unter die Räder kommen. Genau mit einer solchen scheinbar humanistischen Nächstenliebe haben immer mehr Menschen in unserer Zeit zu kämpfen.
Nur dort, wo Gott als Alpha und als Omega, als Anfang und als Ende erkannt und geliebt wird und nur dort, wo der Menschen unabhängig von seiner Herkunft und von seinem sozialen Status als liebenswert und gleichwertig angenommen wird, hat das Wichtigste den richtigen Platz. Das Wesentliche im Leben ist unabhängig von den Moden, von den Meinungsmachern, von Regierungs- und Gesellschaftsformen für alle Menschen gleich und es muss immer an der Haltung zu Gott und zu den Mitmenschen gemessen werden.
Liebe Schwestern, liebe Brüder,
was ist das Wichtigste und das Wesentlichste im Leben? Ob vor dem Sturm oder nach dem Sturm ist die Antwort für die gläubigen Menschen immer gleich: Schöpfe Kraft aus Gott und wende dich den anderen zu und du wirst die Fülle des Lebens erfahren. Ich wünsche uns allen, dass es uns gelingt, unser Leben auf das Wesentliche auszurichten. Ich wünsche uns, dass die Liebe zu Gott und zu dem Nächsten unser Markenzeichen ist, das auch den anderen den Weg zum Leben zeigt.
Slawommir Dadas
Pfarrer