Die zwei Seiten unseres Menschseins

Predigt von Kaplan Niko TomicWer von uns kennt nicht Momente, in denen man sich selbst als Verlierer und Versager, als unfähig und mies empfindet, und andere Situationen, wo sich der Gedanke aufdrängt: Ich bin der oder die Größte.
Ich bin besser als er oder sie. Schau dir doch die anderen an, ich bin froh, dass ich nicht so bin. Die beiden Figuren im heutigen Evangelium verkörpern diese gegensätzlichen Einstellungen.

Da sind zwei Männer, die kommen zum Tempel, zum Gotteshaus, um zu beten. Genauso wie wir ja heute zur Kirche gekommen sind zum Gebet, zum Gottesdienst.

Der eine von den beiden ist ein Pharisäer, der wirklich Bewundernswertes leistet, anständig lebt. Und einen großen Teil seines Einkommens spendet. Er hat allen Grund, stolz auf sich zu sein, und sich zu freuen, dass er nicht zu den Verachteten in der Gesellschaft gehört. Und dann ist da der andere, der Zöllner, der im Dienst der verhassten Römer die Steuern eintreiben muss und dabei immer wieder seine Volksgenossen betrügt. Niemand will mit ihm zu tun haben, und das weiß er ganz genau. Auf den hat jeder mit dem Finger gezeigt.

Beide sprechen ein Gebet. Der Pharisäer: „Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin, die Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner dort“. Der Pharisäer schaut eigentlich Gott gar nicht an, sondern nur sich selbst; er braucht eigentlich Gott gar nicht, denn er macht selber alles recht. Der Zöllner schaut in seinem Gebet allein auf Gott. Im Anblick Gottes erkennt er nur sich selbst, spürt seine Fehler, seine Schuld. Er weiß, dass er Erbarmen braucht, dass er trotz seiner Fehler bei Gott eine Chance hat und er bittet um Vergebung.

Etwas von diesem Pharisäer steckt fast in jedem Menschen. Auch der ärgste Schurke ist versucht, sich selbst für gerecht zu halten und die Anderen zu verachten. Aber in uns steckt auch der Zöllner, der ahnt oder im besseren Fall weiß, dass er die Zuwendung Gottes braucht. Wir möchten zwar lieber der Zöllner als der Pharisäer sein. Aber wenn es damit ernst wird, ist es sicherlich nicht leicht, vor Gott „Zöllner“, also ganz man selbst zu sein. Die beiden Figuren kann man als zwei Seiten unseres Menschseins nehmen. Da ist die eine Seite, die wir gerne nach außen zeigen: unsere Wohlanständigkeit, unser Ansehen und unsere Bedeutung.
Aber wir haben auch die andere Seite, die wir vielleicht überhaupt nicht gerne sehen, derer wir uns schämen, die wir bewusster vor anderen Menschen verbergen: dass wir vielleicht sehr gierig sind, oder faul, oder träge, oder dass wir von irgendetwas abhängig sind usw.

Schwestern und Brüder!
Sich real von Gott hinzustellen, vor Gott wirklich zuzugeben, wer man ist, das ist gar nicht so einfach. Wenn dieses „Gar-nicht-so-einfach“ nur ehrlich ist, sagt Jesus diesem Bemühen seine Gnade und darin seine Vergebung zu. Die heilige Hildegard von Bingen sagt: „Denk daran, dass du ein irdischer Mensch bist, und fürchte dich nicht so sehr, denn Gott sucht nicht immerzu Himmlisches in dir.“

Niko Tomic
Kaplan