Loslassen – Neuordnung des eigenen Wertesystems

predigt2„Der Herr sprach zu Abram: Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. Ich will segnen, die dich segnen; wer dich verwünscht, den will ich verfluchen. Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen. Da zog Abram weg, wie der Herr ihm gesagt hatte, und mit ihm ging auch Lot. Abram war fünfundsiebzig Jahre alt, als er aus Haran fortzog. Abram nahm seine Frau Sarai mit, seinen Neffen Lot und alle ihre Habe, die sie erworben hatten, und die Knechte und Mägde, die sie in Haran gewonnen hatten. Sie wanderten nach Kanaan aus und kamen dort an.“ (Gen 12,1-5)

 

Liebe Schwestern, liebe Brüder,

das Wort Loslassen wurde in den letzten Jahren im Bereich der Esoterik und der Beratung zur Selbstfindung zum Modewort. Einige haben entdeckt, dass sich damit gutes Geld verdienen lässt und darum boomt die profitorientierte Lebensbegleitungsmaschinerie. In Klang-, Atem- oder Lichttherapien, durch Jogaübungen und Meditationen sollen jede und jeder lernen können, losgelöster und glücklicher zu sein. Alle diese Erscheinungen sind Antwort auf die Welt des gestressten Menschen unserer Zeit. Sie sind eine Suche nach Ruhe, nach Ausgeglichenheit, nach Räumen, die frei sind vom ständigen Druck der gesellschaftlichen Erwartung. So bedenklich die Entwicklung ist, wenn aus der Not eines anderen das eigene Kapital gemacht wird, so wichtig und berechtigt wäre der Wunsch, dem Menschen dabei zu helfen, sein Leben so zu ordnen, dass er erfüllt aber nicht übersättigt lebt. Dabei könnte das Loslassen helfen.

Aber das echte Loslassen meint nicht ein wenig Kosmetik für den Leib, damit man gedehnter und elastischer wird und nicht ein wenig Kosmetik für die Seele, damit man sich selbst vor dem Spiegel sagen kann: „ich tue eh etwas für mich“. Das echte Loslassen meint die Neuordnung des eigenen Wertesystems, es meint, wenn notwendig, die Veränderung des eigenen Fundaments, das mir bisher die Sicherheit gab.

Man muss auch wissen, dass die Haltung des Loslassens zutiefst religiös ist und dass sie in der Bibel öfters dargestellt und beworben wird. Bereits der Glaubensvater Abraham muss loslassen und in ein neues Land ziehen, das ihm Gott zeigt. Im Neuen Testament sind Berufungsgeschichten, auch die, die wir heute gehört haben, mit dem Aufruf zum Verlassen – also Loslassen – verbunden. Wie oft haben wir uns schon aufgeregt über die Wort Jesu: „Und jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird dafür das Hundertfache erhalten und das ewige Leben gewinnen“ (Mt 19,29). Sie sind aber nichts anderes als die Einladung, im eigenen Leben Prioritäten zu setzen, sich frei zu spielen von dem, was uns bindet und uns nicht in vollen Zügen leben lässt. Jesus war kein Feind des Lebens, sondern ein Feind der Bindung, die versklavt, die nicht entfalten lässt, die nicht zulässt, dass jemand den eigenen Weg geht, der ihn zum Leben in Fülle führen würde.

So bedeutet das echte Loslassen, Abstriche zu machen in solchen Bereichen, die das Leben beschneiden, es ersticken; ihm Luft, Wasser und Licht nehmen. Loslassen meint nicht, dem Selbstverwirklichungswahn zu verfallen, sondern das eigene Leben zu entrümpeln. Es meint, die eigene Wertehierarchie anzuschauen und sich von dem zu trennen, was keinen Halt und keinen Sinn gibt, auch wenn es in der Gesellschaft und durch die Moden beworben werden sollte.

Liebe Schwestern, liebe Brüder,

heute verabschieden wir das alte Kalenderjahr. Diese Stunden laden zum Nachdenken ein über alles, was man in das Neue Jahr nicht mitnehmen möchte – also zum Nachdenken über das, was man loslassen soll. Ich wünsche uns allen, dass wir dabei die richtige Entscheidung treffen. Ich möchte Ihnen zum Nachdenken zwischen Raclette und Sekt eine Geschichte von Axel Kühner mitgeben, die uns helfen kann, im Alten Jahr einiges zurückzulassen.

„Im 19. Jahrhundert lebte in Polen ein bekannter jüdischer Rabbi mit Namen Hofetz Chaim.

Zu ihm kam eines Tages ein Besucher, um einen Rat von ihm zu erbitten. Als der Mann sah, dass die Wohnung des Rabbi aus einem winzigen Zimmer bestand, in dem sich nur eine Bank, ein Tisch mit Stuhl und viele Bücher befanden, fragte er den Rabbi verwundert: «Meister, wo haben Sie Ihre Möbel und den Hausrat?»

«Wo haben Sie Ihre?» erwiderte der Rabbi. «Meine?» fragte der verblüffte Fremde, «ich bin doch nur zu Besuch hier. Ich bin doch nur auf der Durchreise!» «Ich auch!» sagte Hofetz Chaim.

Unser Leben ist eine wunderbare Reise. Beschweren wir uns nicht mit zu viel unnützem Ballast. Wir haben ein großes Ziel und ein wunderbares Zuhause bei Gott. Bis dahin sind wir auf der Durchreise.“ aus: Überlebensgeschichten für jeden Tag, Aussaat Verlag

Slawomir Dadas
Pfarrer