Liebe Schwestern, liebe Brüder,
Liebe Ehejubilare
vor einigen Wochen fühlten sich einige Österreicher als Mittelpunkt Europas. Der Sieg von der Kunstfigur Conchita Wurst brachte Bewegung, und zwar nicht im Bereich der Musik, sondern in der Diskussion über die Geschlechtlichkeit. Die Begründung von Thomas Neuwirth, wie er zu einem solchen Auftritt kommt, war sehr plausibel: Er wollte und will weiterhin mit der Darstellung eines Mischwesens provozieren, um für die Toleranz zu kämpfen. Auch wenn ich mich zu Toleranz und Gleichberechtigung aller Menschen bekenne, muss ich feststellen, dass in unserer Zeit der Begriff „Toleranz“ sehr merkwürdig verstanden und verwendet wird. Man kann den Eindruck gewinnen, dass es dabei um eine grundsätzliche Bekämpfung von bestehenden Grenzen und auch immer wieder von Menschen geht, die sich für die Grenzen im Leben aussprechen.
Da die Toleranz eines der Fundamente einer geglückten Beziehung ist, möchte ich Sie dazu einladen, mit mir darüber nachzudenken.
Ich behaupte, dass Sie, liebe Jubelpaare, um einiges toleranter sind, als viele Menschen, die die Toleranz mit „alles ist erlaubt, alles ist gut, alles egal“ gleichsetzen. Denn hätten Sie Ihr Leben gerade nach solchen Regeln gestaltet, dann wären Sie heute nicht hier, weil Sie es nicht ausgehalten hätten.
Toleranz bedeutet großzügig, weitherzig, nachsichtig und duldsam. Alle diese Eigenschaften bezeichnen einen Menschen, der zuerst in sich gefestigt ist, einen Menschen, der sich durch die Meinungsmacher nicht einmal in diese, einmal in die andere Richtung schupsen lässt, sondern der sich zu einem Wertesystem bekennt. Erst aus dieser Haltung heraus kann sich ein Mensch in den anderen einfühlen, ohne sich selbst dabei aufzugeben. Diese Eigenschaften „großzügig, weitherzig, nachsichtig und duldsam“ bezeichnen die Fähigkeit, das eigene Herz zu öffnen, den anderen verstehen zu wollen, die eigenen und die fremden Grenzen zu erkennen und aus ihnen neue, gemeinsame zu machen.
All das haben Sie bereits Jahrzehnte lang gelebt und dadurch bewiesen, dass Sie tolerant sind. Sie haben aus zwei getrennten Welten eine gemacht. Es wird so sein, dass der Bau der neuen, gemeinsamen Welt nicht ohne Irritationen und Fragen verlaufen ist: Muss ich auch das noch aushalten? Ist das noch zumutbar? Im Gespräch, im Öffnen des Herzens mit Nachsicht und Geduld haben Sie immer wieder bewiesen, dass Sie zu Kompromissen bereit waren und auf einander Rücksicht genommen haben. Darum feiern wir heute das Fest der Toleranz als Fest der gegenseitigen Achtung vor und als Fest der gegenseitigen Verantwortung für einander. Erst in einer solchen Haltung kann sich das Leben entfalten und einen guten Raum schaffen für ein neues Leben, das durch Kinder und Enkel einen besonderen Ausdruck bekommt.
Liebe Jubelpaare,
die Soziologen sagen, dass es früher einfacher gewesen ist, dem Eheversprechen treu zu bleiben, weil die durchschnittliche Ehedauer vor 1850 15 Jahre und um 1900 18 Jahre betrug. Der Grund dafür war in vielen Fällen entweder der Tod des Ehemannes bei einer der damaligen kriegerischen Auseinandersetzung oder der Tod der Frau bei der Geburt eines der vielen Kinder. Seien Sie froh, dass Sie nicht damals gelebt haben.
Sie haben viel miteinander erlebt, was Ihre Ehe hätte bedrohen können z.B. die gesellschaftlichen Entwicklungen der 70er Jahre, wo die Abkehr von der wirtschaftlichen Sicherheit, von der Disziplin, der Normengebundenheit und der Pflichterfüllung stattgefunden hat und die Hinwendung zur Selbstverwirklichung, zu Individualismus, Emanzipation und Ungebundenheit passiert ist.
Einige von Ihnen haben, wie die Familientherapeuten meinen, die zwei gefährlichsten Fasen ihrer Beziehung überstanden: Die Geburt des ersten und den Auszug des letzten Kindes aus dem Haushalt. Sie waren bereit, auf ca. 250.000 € für sich zu verzichten, denn so hoch sind die Ausgaben pro Kind etwa bis zum 18. Lebensjahr.
Wir können miteinander feiern, weil Sie großzügig, weitherzig, nachsichtig und duldsam – also tolerant im Sinne von auf einander eingehend, für einander verantwortlich – sind. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich zu dieser Haltung und zu Ihrem Jubiläum. Ich wünsche Ihnen weiterhin eine solche Einstellung zu sich selbst, zu einander und zu anderen Menschen. Ich wünsche Ihnen, dass Gott Ihnen noch viel Zeit in Gesundheit und in Freude mit einander und mit ihren Familien schenkt.
Slawomir Dadas
Pfarrer