Liebe Schwestern, liebe Brüder!
Vielleicht erschrecken Sie jedes Mal, wenn Sie dieses Wort hören: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.“ Ein bekannter Spruch aus der Bibel, den wir alle kennen. In der Bibelwissenschaft gibt es einige Erklärungen dazu. Eine finde ich für mich sehr erleuchtend. Aber ich weiß nicht, ob sie stimmt, denn letztlich zeigen das zweimalige Erschrecken der Jünger und das weitere Gespräch deutlich, dass Jesus tatsächlich ein Paradox darstellen wollte. „Wer kann dann noch gerettet werden?“
Diese Deutung wird mittlerweile verworfen*, aber ich finde sie trotzdem sehr interessant. Die Stadt war damals, wie auch viele andere große Städte, von einer festen Mauer umgeben, in der es einige Tore gab. Diese wurden aus Sicherheitsgründen nachts verriegelt, damit keine feindlichen Truppen eindringen konnten. Wer bis zum Einbruch der Dunkelheit nicht rechtzeitig die Stadt erreicht hatte, musste draußen übernachten. In Jerusalem aber gab es eine kleine Tür, die immer geöffnet war. Sie war allerdings so eng und niedrig, dass dort keine Angreifer mit Rüstung und Waffen eindringen konnten, sondern nur einzelne Personen. Und dieser Eingang hieß im Volksmund damals „Nadelöhr“.
Mit diesem Wissen im Hintergrund lässt sich besser verstehen, was der Herr meint, wenn er sagt: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt. Es kam vor, dass ein reicher Kaufmann mit seiner Karawane die Stadt Jerusalem nicht rechtzeitig vor Toresschluss erreicht hatte, um sich und seine Waren hinter den Mauern vor den Räubern in Sicherheit zu bringen. Wenn er Jerusalem erreichte und die Tore verschlossen vorfand, musste er sich entscheiden: Bleibe ich jetzt, diese Nacht, draußen bei meinen voll beladenen Kamelen? Oder bringe ich mein Leben lieber in Sicherheit, indem ich durch das Nadelöhr in die Stadt hineingehe? Eins war klar: Seinen ganzen Besitz konnte er nicht mitnehmen. Er musste sich davon trennen, ihn loslassen.
Der Herr will uns sensibilisieren mit diesem Wort vom Nadelöhr, sensibilisieren für unsere Anhänglichkeiten.
Angenommen, ich stehe vor diesem Nadelöhr, vor dieser kleinen Pforte. Was habe ich, woran hänge ich? Könnte ich, wollte ich so ohne weiteres auf Liebgewordenes verzichten? Oder hänge ich schon zu sehr daran? Aber all diese Dinge können wir nicht durch das schmale Tor zerren. Vollgepackt kommen wir nicht durch das Nadelöhr.
Bei unserem jungen Mann im Evangelium war es das Vermögen, an dem er so sehr hing, dass er nicht – noch nicht – frei war. Ich erschrecke immer wieder darüber, wie sehr ich schon an manchen Dingen und Gewohnheiten klebe. Was würde Jesus mir sagen, wenn er mich so liebevoll wie diesen Mann anschaut – wohl auch durchschaut? Es lohnt sich, sich einmal selber zu fragen: Was fehlt bei mir noch? Woran hänge ich so sehr, dass es mein Leben einschränkt? Wovon kann ich mich nicht frei machen? Was hindert mich, die Welt und die Menschen und das ganze Leben mit den Augen Jesu zu sehen? Wir müssen loslassen lernen, so wie der Kaufmann von damals, wenn er nachts in die sichere Stadt Jerusalem kommen wollte. Bevor wir unser ganzes Leben loslassen – in die Hände Gottes – wäre es gut, die kleinen Dinge unseres Lebens loslassen zu lernen, damit uns der letzte Schritt am Lebensende leichter fällt, damit wir frei von unnötigem Ballast werden.
Beten wir, dass wir loslassen können! Gott gebe uns die Gnade dazu.
Niko Tomic, Kaplan
* Verg.: S. Petersen: Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. II. Stuttgart 1981, Sp. 609-611