„Jesus, der wusste, dass ihm der Vater alles in die Hand gegeben hatte und dass er von Gott gekommen war und zu Gott zurückkehrte, stand vom Mahl auf, legte sein Gewand ab und umgürtete sich mit einem Leinentuch. Dann goss er Wasser in eine Schüssel und begann, den Jüngern die Füße zu waschen und mit dem Leinentuch abzutrocknen, mit dem er umgürtet war.
Als er ihnen die Füße gewaschen, sein Gewand wieder angelegt und Platz genommen hatte, sagte er zu ihnen: Begreift ihr, was ich an euch getan habe? Ihr sagt zu mir Meister und Herr, und ihr nennt mich mit Recht so; denn ich bin es. Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, dann müsst auch ihr einander die Füße waschen. Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe.“ Joh 13,3-5; 12-15
Liebe Schwestern, liebe Brüder,
laut Duden bedeutet „Ernstfall“ „das tatsächliche Eintreten eines gefürchteten, gefährlichen Ereignisses. Es kann im privaten Umkreis gebraucht werden, wo jemand ganz persönlich mit einer schweren Krankheit, mit dem Verlust der Arbeit, mit einem Beziehungsbruch konfrontiert wird. Es kann aber auch auf der gesellschaftspolitischen Ebene verwendet werden; im Zusammenhang mit einer Naturkatastrophe, wie Hochwasser oder Dürre oder auch wie derzeit in Brüssel mit der Gefahr des Terrors. „Ernstfall“ bedeutet aber, dass man mit der Situation gerechnet oder sie zumindest in Erwägung gezogen hat. Man hatte also die Möglichkeit, sich auf sie ein wenig mental einzustellen, ja in einigen Fällen sogar gewisse Vorbereitungen zu treffen, insbesondere wenn man alle Warnungen beachtet hat.
Das Wort „Ernstfall“, ausgesprochen am Gründonnerstag, meint natürlich etwas anderes. Es meint den Ernstfall der Liebe und der Hingabe, die in der Fußwaschung und im Paschamahl ihre Höhepunkte haben und die in Konsequenz zur Verhaftung, zur Verurteilung und zum Tod führten.
Jesus zeigt, dass die durch Gewalt, Verrat, Ausgrenzung und Egoismus geprägte Menschheit ein Ernstfall für Gott ist. Er zeigt, dass der religiöse Fanatismus einiger Pharisäer mindestens so gefährlich sein kann, wie die Blindheit der politischen Führer, wie die Gier der organisierten Zöllner oder wie das Schweigen der Massen angesichts des Unrechts und der Ausbeutung der Kleinsten und Wehrlosen in der Gesellschaft. Eine solche Menschheit ist ein Ernstfall für Gott, der aber auch in diesem Momenten nicht der Resignation verfällt, sondern darauf auf seine Art, mit seinem Wesen – also mit der Barmherzigkeit und mit der Liebe – antwortet.
Gott begegnet der menschlichen Begierde nach Beherrschung mit der Fußwaschung, der menschlichen Begierde nach Unterwerfung und Versklavung des anderen mit dem Paschamahl – also mit dem Gedächtnis der Befreiung aus Ägypten, der menschlichen Begierde nach Gewalt mit dem gewaltfreien Gang vor die irdische Justiz. Auf diese Weise durchbricht er viele Teufelskreise der menschlichen Gewalt und zeigt uns den Ausweg aus dem Ernstfall einer kaputten, degenerierten aber selbstzufriedenen Menschheit.
Wir merken also, dass der Gründonnerstag nicht ein Tag des Spiegeleis auf dem Spinat ist, sondern ein Tag, an dem das Projekt Gottes „Ernstfall Mensch“ in die Phase der Entscheidung kommt und von uns auch die Entscheidung verlangt. Denn heute sind wir gefragt: Bist Du bereit, Dich dem Projekt Gottes der Liebe und der Hingabe anzuschließen? Bist Du bereit, mit ihm die Teufelskreise der Gewalt und des Egoismus zu durchbrechen und Dich in den Dienst der gerechten und dadurch der gewaltfreien, friedvollen Botschaft Gottes zu stellen? Wenn ja, dann stehst Du automatisch auf der Seite der Schwachen und Nichtgeachteten, aber auch auf der Seite Gottes, der uns das Heil verheißt.
Liebe Schwestern, liebe Brüder,
einem Ernstfall kann man mit verschiedenen Haltungen begegnen. Man kann vor ihm flüchten, man kann die Verantwortung für eine Lösung auf die anderen abschieben oder man kann sich ihm stellen. Als Frauen und Männer, die in der Nachfolge Jesu stehen, sind wir eingeladen, dem Ernstfall „Mensch zwischen Heil und Unheil“ mit der Haltung der Nächstenliebe und der Barmherzigkeit zu begegnen. Ich wünsche uns, dass uns die befreiende Botschaft Gottes, der „das Leben in Fülle“ für alle will, froh und mutig macht und uns hilft, dass wir uns auf seine Seite stellen. Ich wünsche uns, dass wir in den kommenden Tagen besonders erfahren, dass Gott uns ernst nimmt, uns zum Heil führen will und uns mit seinen Gaben reichlich beschenken möchte.
Slawomir Dadas, Pfarrer