Bergpredigt – unlebbar?

Was der Evangelist Matthäus in der Bergpredigt so meisterhaft komponiert hat, ist nicht nur ein Stück schöner Literatur, es ist auch die Quintessenz der Lehre Jesu. Die Teile der Bergpredigt, die wir letzten und vorletzten Sonntag gehört haben, waren zwar fordernd, aber noch irgendwie akzeptabel. Bei dem, was wir heute gehört haben stellt sich unweigerlich die Frage: wie kann das gehen? Was da verlangt wird ist unrealistisch, ist unlebbar.

Tatsächlich hat es immer wieder Versuche der Theologie gegeben, aus diesem Problem herauszukommen. Die alte katholische Tradition meint, die Bergpredigt wäre nur Ratschlag für perfekte Christen, Mönche, Asketen. Für die normalen Christen gelten die gewöhnlichen 10 Gebote. Luther dagegen meint, die Gebote der Bergpredigt sind als unerfüllbar gedacht. Sie sollen deutlich machen, dass der Mensch dem Willen Gottes aus eigener Kraft gar nicht folgen kann.

Diese und alle anderen dieser offiziellen Lösungsversuche sind nicht wirklich befriedigend. Was machen wir mit der Stelle?
Es gibt zwei grundsätzliche Möglichkeiten, die Bergpredigt falsch zu verstehen:

Wir könnten sie als lyrischen Erguss des begnadeten Schriftstellers Matthäus ansehen, der vom Traum von einer besseren Welt eines Mannes erzählt, der dann selbst elend scheitert. Für unser alltägliches Leben bedeutet die Bergpredigt dann eigentlich gar nichts und wir können solange daran herumdeuten, bis vielleicht das Gegenteil von dem herauskommt, was Jesus gesagt hat.

Oder wir nehmen die Bergpredigt als Gesetzbuch, das genau vorschreibt, was wir zu tun haben. Dann würde das Evangelium sagen: lass dich ausbeuten, misshandeln, verraten und verkaufen und tu nichts dagegen. Und lass zu, dass deine Mitmenschen ausgebeutet, misshandelt, verraten und verkauft werden. Und tu nichts dagegen. Kann das so richtig sein? In unserer Welt gibt es Konflikte, die bestanden werden wollen und Nachgiebigkeit ist nicht immer ein Zeichen von Stärke.

Aber die Bergpredigt ist eben weder Lyrik noch Gesetzbuch. Der Sinn der Bergpredigt liegt woanders. Aber damit wird es nicht einfacher. Gott liebt ohne Grenzen, und er liebt jeden Menschen mit all seinen Grenzen, so, wie er mich mit all meinen Grenzen liebt. Er liebt auch den, der mir unsympathisch ist, er liebt auch den, der mich angreift, er liebt auch den, der mir weh tut. So, wie er auch mich noch immer liebt, wenn ich einem anderen weh tue. Müsste ich da nicht wenigstens Verständnis haben für den anderen?

Von heute auf morgen geht das sicher nicht. Aber wir können uns durch die Bergpredigt provozieren lassen, nach Spuren der Gewaltspirale in unserem Leben zu suchen. Wo aus Ablehnung, Aversion, Vorurteilen Kettenreaktionen entstehen. Wir können uns durch die Bergpredigt provozieren lassen, dem anderen seine Andersartigkeit zuzugestehen, zu versuchen, die Motive, die Erfahrungen, die Ängste der anderen Kennenzulernen.

Bergpredigt – unmöglich? Der große Schriftsteller Hermann Hesse hat gesagt „damit das Mögliche entsteht, muss das Unmögliche versucht werden“. Wenn wir uns an das Unmögliche der Bergpredigt heranwagen, dann kann das Mögliche in unserem Leben gelingen.

Rudolf Bittmann
Diakon