Opfer oder Opferbereitschaft

„Als es Abend wurde, kam Jesus mit den Zwölf. Während sie nun bei Tisch waren und aßen, sagte er: Amen, ich sage euch: Einer von euch wird mich verraten und ausliefern, einer von denen, die zusammen mit mir essen. Da wurden sie traurig, und einer nach dem andern fragte ihn: Doch nicht etwa ich? Er sagte zu ihnen: Einer von euch Zwölf, der mit mir aus derselben Schüssel isst. Der Menschensohn muss zwar seinen Weg gehen, wie die Schrift über ihn sagt. Doch weh dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird. Für ihn wäre es besser, wenn er nie geboren wäre. Während des Mahls nahm er das Brot und sprach den Lobpreis; dann brach er das Brot, reichte es ihnen und sagte: Nehmt, das ist mein Leib.“ Mk 14, 17-22

Liebe Schwestern, liebe Brüder,
mit dem Wort Opfer verbinden wir verschiedene Bilder und Gefühle. Menschen, die ausgenützt, erniedrigt, an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, sind Opfer eines Systems. Menschen, die aus ihrer Heimat flüchten, weil die Industrienationen ihren Lebensraum ausgebeutet haben, sind Opfer der Gier von einigen Reichen. Menschen im Nordirak, in Syrien, in Palästina und vielen anderen Ländern Afrikas leben in kriegsähnlichen Zuständen und sind Opfer einer einseitigen Weltpolitik, die sich weniger um die Kinder, Frauen und Männer kümmert, als um die Waffenlobbies und die Geschäfte, die man im Zusammenhang mit dem Krieg machen kann. Jemand, der unfreiwillig in eine Maschinerie der Ausbeutung geraten ist, ist ein Opfer und verdient unser Mitgefühl.

Es gibt aber auch Opfer im alltäglichen Leben: dort wo jemand seine Position in Beziehung zu den Schutzbefohlenen ausnützt, zu den Schwächeren in einem Familiengefüge oder in einem „Freundeskreis“, zu den Untergeordneten am Arbeitsplatz oder in der Schule. Auch solche Personen sollten eine besondere Aufmerksamkeit und Zuwendung des Umfelds genießen können.

Es gibt außerdem auch Personen, die sich opfern, die wir aber als nicht Opfer bezeichnen. Dazu gehören die meisten Mütter, die Nächte durchwachen, wenn Kinder krank sind, viele Väter, die für die Familien ihre Körper schinden, Menschen, die sich ehrenamtlich für eine Sache engagieren, ohne dafür bezahlt zu werden, Rettungskräfte, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um jemand in Sicherheit zu bringen. Opfer als Selbsthingabe, als Ein-Sich-Selbst-Einem-Höheren-Ziel-unterordnen, ohne dass man dabei ein Mitgefühl verlangt.

Opfer – ein Wort, das auch im religiösen Kontext sehr oft verwendet wird. Was aber dabei entscheidend ist: Man darf die beiden Zugänge zu dem Begriff Opfer nicht verwechseln. Wenn eine Mutter sich als Opfer ihres sieben Monate alten Kindes betrachtet, dann ist sie für die Mutterrolle nicht reif. Wenn sich ein Vater ständig selbst bemitleidet, weil er so viel für die Familie arbeiten muss, dann muss er noch lange an seinem Vaterbild arbeiten. Wenn aber einer oder einem Schutzbefohlen erklärt wird: die stärkere Person kann mit dir machen was sie will, ist das ein Missbrauch. Und wenn die Industriestaaten zu erklären versuchen, dass man gegen den Krieg oder die Not in der Welt nichts machen kann, dann ist das eine Heuchelei, die es abzuwählen und zu bekämpfen gibt.

Gott will keine Opfer – also Menschen, die von anderen missbraucht und ausgenutzt werden. Gott steht immer auf der Seite der Opfer gegen die Ausbeuter, gegen alle, die auf Kosten anderer leben.

Gott will aber eine Opferbereitschaft im Sinne, das eigene Leben als Dienst an den anderen zu sehen, Opferbereitschaft gegen den Individualismus und Egoismus. Gott will Menschen, die Jesus nachfolgen und dadurch bereit sind, die eigene Energie kostenlos gegen den Krieg, gegen die Gewalt, gegen den Missbrauch und gegen jede Art der Ausbeutung zur Verfügung zu stellen. Gott will die Opferbereitschaft im Sinne, die höheren Ziele im Leben zu entdecken und sich für sie einzusetzen, damit die Täter in der Welt kein Ansehen genießen, sondern als solche bezeichnet und verurteilt werden.

Liebe Schwestern, liebe Brüder,
die Messe, die wir auch jetzt feiern, wird in den Texten auch Opfer genannt; Opfer in einem ganz besonderen Sinne. Gott und der Sohn Gottes Jesus Christus sehen sich nicht als Opfer der menschlichen Blödheit, des menschlichen Egoismus und auch nicht der eigenen Naivität, den Menschen zu viel vertraut zu haben. Jesus opfert sich für uns im Sinne, das eigene Leben in unseren Dienst zu stellen, damit wir mehr vom Leben haben. Alle Menschen, die dieses Opfer vom Herzen feiern, bringen zum Ausdruck, dass sie die Opferbereitschaft Gottes für eine bessere und gewaltfreie Welt sehen und sich daran beteiligen wollen. Darum ist die Messe so wichtig, als Ausdruck unserer Haltung gegen die Gewalt und gegen den Missbrauch, der Haltung für ein Leben für alle im Frieden und im Wohlstand.

Ich wünsche uns allen, dass wir nie zu Opfern der andern werden, damit niemand auf unsere Kosten leben kann. Ich wünsche uns aber eine Opferbereitschaft, also eine Opferbereitschaft für die Sache Jesu, damit die Welt durch uns, besser, heiler und vom Geist Gottes gefüllter wird.

Slawomir Dadas
Pfarrer