Aufnahme ist Entscheidung im Dialog

„In jener Zeit, als Jesus zum Volk redete, rief eine Frau aus der Menge ihm zu: Selig die Frau, deren Leib dich getragen und deren Brust dich genährt hat. Er aber erwiderte: Selig sind vielmehr die, die das Wort Gottes hören und es befolgen.“ Lk 11, 27-28

Liebe Schwestern, liebe Brüder,
eine der wichtigsten Errungenschaften der modernen europäischen Gesellschaften ist die Selbstbestimmung. Sie gehört zu den menschlichen Grundrechten. Einerseits betrifft sie die ganzen Völker, die das Recht haben sollen, frei über ihren politischen Status zu entscheiden und in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu gestalten. Dieses Recht wird in der Charta der Vereinten Nationen festgeschrieben. Daraus ergibt sich die Selbstbestimmung für kleinere Gruppen und für einzelne Personen, die das Recht haben sollen, ihre eigenen Angelegenheiten frei und ohne jegliche Einmischung – nicht einmal vom Staat – zu regeln. Natürlich nur, soweit sie die anerkannten Gesetze der jeweiligen Gemeinschaft nicht verletzen.

Soweit die Theorie, die eher schön klingt und uns das Gefühl der Freiheit vermittelt. Die praktische Erfahrung ist leider Gottes oft sehr umstritten und nicht so einfach durchzusetzen. Im politischen Kontext möchte ich nur auf solche Länder und Völker hinweisen, wie Kurden, Palästinenser, wie Ukraine oder Syrien. Können sie in Freiheit ihre soziale und wirtschaftliche Entwicklung gestalten? Natürlich nicht; und die großen Zuschauer dabei, wie eine solche Charta gerade nicht funktioniert, sind jene Länder, die sich die Freiheit groß auf ihre Fahnen heften.

Auf der anderen Seite gibt es auch im privaten Bereich viele grenzwertige Entscheidungen, die scheinbar mit dieser Freiheit etwas zu haben sollen. Sollte es eine Selbstbestimmung über den eigenen Tod geben? Oder eine Mitbestimmung über den Tod der ungeborenen kranken Kinder? Oder der geborenen, aber unheilbar kranken?

Was hat das mit dem heutigen Fest zu tun?

Heute feiern wir die die Aufnahme Mariens in den Himmel; nicht ihren Einzug in den Himmel, nicht ihre Eroberung des Himmels, nein, die Aufnahme. Im Allgemeinen ist jede Aufnahme eine Entscheidung von zwei Seiten. Wenn ein Kind in die Schule, in einen Verein aufgenommen wird, dann geschieht das meistens aufgrund der Entscheidung des Kindes, der Eltern und der angefragten Gemeinschaft. Es ist eine Selbstbestimmung im Dialog und mit Rücksicht auf die anderen. So ähnlich müssen wir das heutige Fest sehen. Maria wurde in den Himmel aufgenommen, nicht weil sie das in ihrer Selbstbestimmung so entschieden hatte, sondern, weil Gott zu ihr Ja gesagt hat. Ihre Selbstbestimmung war die Ausrichtung ihres Lebens auf Gott hin, auf seine Stimme in ihrem Leben, auf seine Zeichen, auf seine Nähe zu ihr, die sie als solche erkannt hatte. Ihre Selbstbestimmung waren die kleinen und großen Entscheidungen, die ihr Leben für uns als Gott-Gewollt erscheinen lassen. Schließlich war ihre Selbstbestimmung sicher das „Ja bitte und danke“, als Jesus die Pforte des Himmels für sie offen hielt und sie eingeladen hat mit den Worten, „Bitte, willst du hinein?“

Liebe Schwestern, liebe Brüder,
das heutige Fest ist also ein Fest der Selbstbestimmung im Dialog. Gott lädt uns ein, unser Leben auf den Himmel ausrichten, also auf die Wirklichkeit in der Gott wohnt und in der seine Gesetze –  und nur seine – gelten. Er schenkt uns die Freiheit, uns für ihn zu entscheiden, mit ihm durch das Leben zu gehen – wie Maria. Er lädt uns ein, standhaft zu bleiben, uns vom Glauben nicht abbringen zu lassen und uns nicht in den Moden zu verirren.

Maria ist ein Vorbild für uns: ein Vorbild einer Selbstbestimmung, die niemand in seinen Rechten beschneidet, niemand bedroht, niemand einschränkt. Sie ist ein Vorbild der Selbstbestimmung für das Leben mit Gott, der sie dafür mit dem Leben in Fülle, mit dem Leben in seinem Reich beschenkt.

Ich wünsche uns allen, dass es uns ebenfalls wie Maria gelingt, das Leben in Freiheit aus Gott und mit Gott zu gestalten. Ich wünsche uns, dass ihre Aufnahme in den Himmel uns eine Zusage ist, dass Gott auch uns in seiner Gemeinschaft haben will, dass er auf uns wartet und uns mit der Fülle des Lebens beschenken möchte.

Slawomir Dadas
Pfarrer