In seinem Vortrag am 29.11.2018 widmete sich Pfarrer Slawomir Dadas dem Thema „Glaubensschwund in der Welt“, der die aktuelle gesellschaftspolitische Situation und deren geschichtliche Entwicklungen, die Reaktion der Kirche auf diese Veränderungen, die Auswirkungen auf die Kirche und kircheninterne Probleme beleuchtete sowie die daraus abzuleitenden Konsequenzen skizzierte.
Eine Beschäftigung mit dem Thema führt auch zu der Frage: welche Art von Schwund überhaupt zu verzeichnen ist. Handelt es sich dabei tatsächlich um einen Glaubensschwund oder vielmehr um Mitgliederschwund oder einen Schwund an Messbesuchern?
Die aktuelle gesellschaftspolitische Situation
Die Kirche hat insgesamt ihre Monopolstellung zur Deutung des Lebens und zur Beantwortung der Fragen: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? verloren. Die Menschen messen die Kirche an ihren eigenen, individuellen, biografischen Bedürfnissen.
Geschichtliche Entwicklungen
Durch die Konstantinische Wende entwickelte sich das Christentum von einer unbedeutenden Größe, zeitweise geduldet, zeitweise verfolgt, zur Staatsreligion und wurde damit „salonfähig“.
Die Französische Revolution und die Entwicklungen Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts sollten die Kirche wieder ihrer Bedeutung in Hinblick auf die Erklärung des Menschen und der Welt aus der Metaphysik (= Lehre, die sich mit den nicht erfahrbaren und nicht erkennbaren Dingen des Seins beschäftigt) heraus, berauben. Die Evolutionstheorie und die Begründung des menschlichen Daseins aus dem Materialismus (= Erkenntnistheorie, die alle Vorgänge und Phänomene der Welt auf Materie und deren Gesetzmäßigkeiten und Verhältnisse zurückführt) veränderten das Weltbild.
In der Modernen und Postmodernen Gesellschaft des 19./20. Jahrhunderts kommt es abermals zu einschneidenden Veränderungen. Pluralismus und Zufälligkeit bestimmen das Leben der Menschen. Ein universaler Wahrheitsanspruch wird abgelehnt – jeder sucht sich „seine eigene Wahrheit“, jene, die zu ihm passt.
Moral wird nicht überall gleich verstanden. Es kommt zum Verlust von traditionellen Bindungen (Familie), von Solidarität und Gemeinschaftsgefühl. Die Gesellschaft erfährt eine Aufteilung in eine Vielzahl von Gruppen (Milieus) mit unterschiedlichen Denk- und Verhaltensmustern. Die persönliche Freiheit gewinnt an Bedeutung.
Wie hat die Kirche auf diese Veränderungen reagiert?
Die Kirche hat zu jeder Zeit auf Veränderungen in der Gesellschaft reagiert, wenn auch aus heutiger Sicht beurteilt, nicht immer richtig. Ihre Antwort auf den Pluralismus, im 1. Vatikanischen Konzil, war ein Versuch, dem Zerbröckeln der bis dahin bestehenden Gesellschaft entgegenzuwirken und eine konstante Größe darzustellen, sich als Gegenpol zum Zerfall von Autoritäten zu positionieren. Dies ist bis heute in den kirchlichen Strukturen erkennbar. Es führte zwar kurzfristig zur Stabilisierung der Kirche, aber auch zur Polarisierung und Abspaltung z. B. der Altkatholischen Kirche.
In den 1960iger und 1970iger Jahren erkannte die Kirche, dass Pluralität ein gesellschaftspolitisches Faktum ist. Konfessionelle Durchmischung, Veränderungen des Arbeitsmarktes und der Mobilität (und damit des Horizontes der Menschen), Medien- und Bildungsoffensive (Bildungschancen für alle) sowie Pluralität in den Lebensentwürfen (individuelle Lebensgestaltung) stellten die Kirche vor neue Herausforderungen. Das 2. Vatikanische Konzil war ein Versuch genau diesen Entwicklungen positiv zu begegnen.
Auswirkungen auf die Kirche
Die gesellschaftspolitischen Veränderungen führten zum Zusammenbruch der „Pastoral der Angst“ (Seelsorge auf Basis von Angst und Gehorsam) und zu einem freien Verhältnis der Menschen zu kirchlichen Institutionen durch den Wegfall von sozialem Druck, auch in ländlichen Gebieten. Die Kirche stellt keine Schicksalsgemeinschaft mehr da, sondern wurde zu einem von vielen Anbietern im Bereich Religion, die die Deutung des Lebens für sich in Anspruch nehmen.
Tatsächlich kann man nicht von einem Glaubensschwund, sondern vielmehr von einem Institutionenschwund ausgehen, der in allen Lebensbereichen erkennbar ist. Menschen wollen auch heute noch Religion leben. Allerdings definieren zunehmend Ersatzreligionen sogenannte „Markenreligionen“ den Wert und Sinn des Lebens (Kaufzwang um dazuzugehören).
Wie geht die Kirche damit um?
Zwei Strömungen sind erkennbar:
- Opportunistischer Liberalismus: Anpassung, weil dies als nutzenbringend gesehen wird und ankommt z. B. Reduzierung des eigenen kirchlichen Profils; sich nicht oder kaum einmischen in die gesellschaftspolitische Entwicklung
- Purer Dogmatismus: in der Tradition des 1. Vatikanischen Konzils verhaftet; die Welt, die als feindliche Realität erlebt wird, bekehren und die Menschen zurück in den Schoß der Kirche führen
Beides liefert keine schlüssigen Antworten auf den Pluralismus und die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft. Vielmehr ist es Aufgabe der Kirche, den Menschen die Möglichkeit für Gotteserfahrungen zu bieten, ihnen zu vermitteln, dass es Erfahrungen im Leben gibt, die das Materielle, Irdische übersteigen und sie Tröstung und Verzeihung erfahren lassen.
Kircheninterne Probleme
Aber nicht nur gesellschaftspolitische Veränderungen beeinflussen den Stellenwert der Kirche in der Gesellschaft, einiges ist auch „hausgemacht“. So zeigt sie theologische Schwächen in Bezug auf ein für die Menschen der heutigen Gesellschaft begreifbares Gottesbild; auch fehlt es an sozial-politischer Sprengkraft. Durch die mitunter schwer verständliche Sprache in der Liturgie, die Qualität der Seelsorge und die Untätigkeit der Kirchenleitung in schwierig zu lösenden Fragen (z. B. Priestermangel), den Verlust der Glaubwürdigkeit (z. B. im Umgang mit Straftaten innerhalb der Kirche) und die fehlende Aufarbeitung der eigenen Geschichte entfernt sich die Kirche immer mehr von den Menschen.
Konsequenzen für die Kirche
Es geht darum, im Heute anzukommen und zu leben – nicht im Gestern. Verkündigung und Glaubensvermittlung müssen auf die gesellschaftspolitischen Veränderungen abgestimmt werden. Kreativität und milieuangepasste Seelsorge sollten ausgebaut und kirchliche Strukturen offener gestaltet und bestmöglich auf die Menschen der Zeit abgestimmt werden.
Ein klares Bekenntnis zum Pluralismus, ehrliches Bemühen um Beziehungen zu den Menschen aller Altersgruppen und Milieus und die Rückbesinnung auf das Evangelium haben oberste Priorität, will man eine Volkskirche im Geiste Jesu sein; denn „Christus ist gekommen, um alle zu retten!“
Literaturhinweis: Entmonopolisierung und Machtverlust, in: R. Bucher (Hg), Die Provokation der Krise.
Text: Birgit Breitwieser, PGR-Mitglied