Zeig mir deine Wunden

Der ungläubige Thomas, das ist das Thema des Sonntags nach Ostern. Bisher hatte ich beim Nachdenken über diese Begegnung immer das Bedürfnis, die Ungläubigkeit des Thomas zu erklären und zu verteidigen. Das erscheint mir nach wie vor vernünftig. Thomas war ein ganz besonderer Apostel. Er hat sich immer voll hinter seinen Meister Jesus gestellt, er hat ihn nie verleugnet, er war bereit, mit ihm in den Tod zu gehen. Er hat sich aber nie von Gefühlen hinreißen lassen, er war ehrlich, er hat kritische Fragen gestellt, wo sich die anderen nicht trauten. Emotionale überschäumende Ausbrüche waren nicht sein Ding.

Darum ist auch hier, meine ich, sein Zweifeln, sein Nachfragen völlig in Ordnung.

Erinnern sie sich, vor einer guten Woche, am Gründonnerstag, war das Thema unseres Gottesdienstes: Berühren, Berührungen. Da ist mir spontan diese Thomas-Stelle eingefallen. Kann es sein, dass es hier gar nicht so sehr um Glauben oder Unglauben oder Skepsis geht? Kann es sein, dass es um viel mehr geht? Dass es um Wunden geht, und um das Berühren?

Es gibt keinen Menschen, der nicht in irgendeiner Weise Wunden hat. Es gibt niemanden, der nicht verwundet ist. Wir gehen sehr unterschiedlich mit unseren Verwundungen um. Manchmal tragen wir sie vor uns her wie eine Fahne. Davon versprechen wir uns Aufmerksamkeit, Mitleid. Aber das sind nicht die wirklich schmerzenden Wunden, das ist eher Wehleidigkeit, Wichtigtuerei oder Schuldgefühl im anderen erzeugen. Dann gibt es Wunden, die wir, in besonderen Momenten, anderen, uns wirklich nahe stehenden Menschen, öffnen und zeigen können. Es gibt Wunden, die wir niemals preisgeben würden. Es gibt Wunden, die uns nicht angetan wurden, sondern die wir uns selber geschlagen haben. Das sind oft die schlimmsten. Und wir haben Wunden, auf die wir selber nicht zu sehen wagen, die wir vor uns selbst verstecken.

Wunden sind etwas, das zu uns, zu unserem Menschsein gehört. Aber sie sind etwas ganz intimes, ganz persönliches. Sie gehen in den Kern, ins Innerste unseres Seins.

Zurück zur geschilderten Situation. Die Jünger feiern. Jesus ist wieder zurück. Egal wie, aber er ist wieder da, alles ist gut. Das Geschehene ist Vergangenheit, weggewischt wie ein Alptraum. Thomas stört diese fast ausgelassene Fröhlichkeit, diese Idylle. Und Jesus gibt seiner Forderung nach. Er zeigt seine Wunden und mehr noch, er fordert Thomas auf, in ihn, in seine Verwundung hineinzugreifen.

Damit läßt sich Jesus auf Thomas, läßt sich Jesus auf uns ein in einer Tiefe, zu der wir selber nicht im Stande sind. Er gibt sich uns näher, als wir einander kommen können. Er öffnet sich völlig. Und er sagt uns damit auch: dort, wo ihr auf Wunden und Verwundungen trefft, dort findet ihr mich. Dort, wo Menschen leiden, da begegnest du mir. Und ich bin auch bei dir, wo du leidest, ich bin mit dir bei deinen innersten, geheimsten Wunden.

Wunden gehören zu uns, bleiben bei uns. Auch durch unsere Wunden werden wir zu dem, was wir sind. Gott wird sie nicht ungeschehen machen. Er wird sagen: zeig mir deine Wunden. Und er wird uns heil machen.

Rudolf Bittmann
Diakon