Wer liebt, hat das Leben gefunden

Nikodemus, der einflussreiche Führer und Lehrer der Juden, kommt heimlich zu Jesus, um sich die grundlegende Frage jedes Menschen beantworten zu lassen: woher komme ich, wohin gehe ich, was erwartet mich. Ich weiß nicht, ob Nikodemus sehr zufrieden war mit der Antwort. Sie ist kompliziert, scheinbar widersprüchlich: der Menschensohn wird erhöht, aber zuerst erniedrigt und getötet. Sein Kommen bedeutet nicht Gericht, sondern Rettung. Aber die, die nicht glauben, sind schon gerichtet. Manche Menschen leben in der Finsternis, die ihre bösen Taten versteckt. Aber Gott schickt auch zu denen aus Liebe seinen Sohn, um sie durch seinen Tod vom Bösen zu befreien.

Die wichtigste Aussage, die frohe Botschaft in der frohen Botschaft ist der Satz: „so sehr hat Gott die Welt geliebt!“ Gott ist nicht der Aufseher über die Welt, der Kontrollor, der aus der Distanz die Anstrengungen, die Versuche und das immer wieder Scheitern der Menschen überheblich, belustigt oder gar mit  mehr oder weniger sadistischer Freude beobachtet. Nein, ganz im Gegenteil, er liebt seine Schöpfung, er liebt die Menschen und damit nimmt er Teil am Schicksal der Menschen, unentrinnbar. So, wie Liebe letztlich immer außer sich gerät und  keine Vorsicht, keine Rücksicht auf sich selbst kennt, sich vor nichts scheut, vor nichts zurückschreckt. So ist Gott einer von uns geworden, ist herab gekommen, hat sich herabziehen lassen. Gott ist Mensch geworden mit allen Konsequenzen, er hat sich eingelassen auf sie und hat auch alle Erbärmlichkeit und Bosheit der Menschen, ihren Neid, ihren Hass, ihre Brutalität erlebt am eigenen Leib und er hat sich nicht davongestohlen. Manchmal wird es so dargestellt,  als wenn Gott die Sünden der Menschen nur um den Preis des Lebens, um den Preis eines Sühneopfers seines Sohnes verzeihen und vergeben würde. Das wäre eine  grauenhafte Vorstellung, und ich habe das nie verstehen können. Aber das war nicht so. Gott hat sich in seiner Liebe so sehr eingelassen auf die Menschen, sich aus Liebe so unrettbar in das Schicksal der Menschen verstrickt, dass er auch die tiefste Not, das tiefste Elend seiner Geschöpfe selbst erlitten und durchlitten hat.

Das ist Liebe, wirklich unüberbietbare Liebe.

Trotzdem finden wir auch hier Worte vom Gericht. Aber nicht in einer drohenden Weise, keine Rede von Heulen und Zähneknirschen, kein Hinweis auf bevorstehende Strafen: Wer glaubt, wird nicht gerichtet. Wer nicht glaubt, ist schon gerichtet. Gott verhängt keine Strafe.

Wenn im Evangelium vom Gericht die Rede ist, dann geht es nicht darum, dass Gott dem Menschen seine Macht zeigen will. Gott hält für uns das bereit, was wir den Himmel nennen. Aber wer sich vor der Liebe verschließt, wer die Liebe leugnet, für wen die  Liebe allenfalls Zeitvertreib ist, der wird mitten in diesem Himmel in Dunkelheit bleiben.

Es geht um die Liebe. Wenn wir die Ängste, die Grenzen unseres Lebens hineinfallen lassen in das Vertrauen auf Gottes Liebe, wenn wir in uns die Liebe entdecken, wenn wir in uns das finden, das lieben kann und wenn wir lieben, dann haben wir das Leben gefunden.

Rudolf Bittmann
Diakon