„Gott hat den Tod nicht gemacht und hat keine Freude am Untergang der Lebenden. Zum Dasein hat er alles geschaffen und heilbringend sind die Geschöpfe der Welt. Kein Gift des Verderbens ist in ihnen, das Reich der Unterwelt hat keine Macht auf der Erde, denn die Gerechtigkeit ist unsterblich. Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit erschaffen und ihn zum Bild seines eigenen Wesens gemacht. Doch durch den Neid des Teufels kam der Tod in die Welt und ihn erfahren alle, die ihm angehören.“ Weish 1, 13-15; 2, 23-24
Liebe Schwestern, liebe Brüder,
in der letzten Woche wurde im europäischen Parlament der Antrag, die Abtreibung zum Menschenrecht zu erklären, eingebracht, behandelt und verabschiedet. Der Antrag wurde vor allem mit sexuellen und reproduktiven Rechten der Frauen begründet, aber vom Recht des ungeborenen Kindes auf Leben ist darin nicht die Rede. Es ist schon merkwürdig und erschreckend, wie selektiv man das Recht anwenden möchte. Ja, einige gut bezahlte europäische Beamte glauben, entscheiden zu können, wer in ihren Augen mehr Rechte haben kann und wer von Vornherein davon ausgeschlossen wird. Auch verwunderlich ist es, dass ein solches Thema unter dem Deckmantel der Rechte der Frauen vorgeschoben wird. Und es ist schon mehr als bedenklich, dass man in einem so starken moralischen Konflikt so selbstverständlich das Recht der einen Seite gegen das Recht der anderen ausspielt. Wie die einzelnen Länder damit umgehen wird sich erst zeigen, weil es in ihrer Kompetenz liegt, die Frage des Lebensschutzes zu regeln.
Aber diese Thematik kann noch auf viele weitere bedenkliche Umgangsformen mit dem Leben der anderen ausgeweitet werden. Nicht selten werden die einzelnen Menschen oder sogar ganze Völker geopfert, weil man die Geschäftspartner nicht verärgern möchte. China, Russland, Syrien, Saudi-Arabien, Israel sind nur einige Beispiele davon. Aber dort, wo das Leben nicht geschätzt, nicht geachtet und nicht geschützt wird, dort beginnt die Kultur des Todes. Und diese hat sich in vielen Bereichen unserer modernen Welt bereits breit gemacht; manchmal als ein direkter Angriff auf das Leben, manchmal als die Zulassung des langsamen Sterbens vieler Menschen.
Diese Thematik wird uns in der heutigen Sonntagsliturgie vorgegeben, weil sie das Leben als etwas Göttliches bezeichnet. Im Buch der Weisheit haben wir gelesen: „Gott hat den Tod nicht gemacht und hat keine Freude am Untergang der Lebenden“ (Weish 1,13). Ja, Gott, der in der jüdisch-christlichen Tradition verehrt wird, ist der Gott des Lebens und der Gerechtigkeit, welche das Leben sichert und ihm einen Raum schafft, damit es sich entwickeln und aufblühen kann. Gott, der in der jüdisch-christlichen Tradition verehrt wird, hat den Menschen zur Unvergänglichkeit und Freude erschaffen und der Tod hat mit ihm nichts zu tun. Der Tod, so heißt es dort, kommt durch den Neid des Teufels in die Welt, um das Leben zu zerstören, um die Menschen von einander zu entfernen, um sie gegeneinander aufzuhetzen. Dort, wo Gott wirkt, entsteht das Leben und es bekommt die Möglichkeit, sich zu entfalten. Dort, wo der Teufel seine Hände im Spiel hat, wird dem Leben sein Wert abgesprochen oder gegen etwas anders aufgewogen. So etwas passiert bei den einzelnen Personen als eine individuelle Handlung, was dramatisch genug ist, aber es wird besonders schlimm, wenn eine solche Haltung in die gesellschaftlichen Systeme aufgenommen und mit Rechten begründet wird: mit Recht auf Selbstverteidigung, mit Recht auf Selbstbestimmung, mit Recht auf Nicht-Einmischung der anderen in interne Angelegenheiten.
Liebe Schwestern, liebe Brüder,
in den letzten eineinhalb Jahren sind Ärzte manchmal vor der Frage gestanden „Für welches Leben entscheide ich mich bei den eingelieferten Patienten; wen behandeln wir zuerst, wer bekommt die Herz-Lungen-Maschine?“ Auf der anderen Seite hat uns diese Zeit verunsichert und viele Menschen in ihrer Existenz beschnitten. Darum könnte die kommende Zeit eine neue Chance bedeuten, den Wert des Lebens wieder zu entdecken und diesem Wert einen wichtigen Platz in der Gesellschaft einzuräumen. Dabei würde ich aber anders vorgehen, als es derzeit in der Politik und in der Wirtschaft der Fall ist, die vor allem darauf bedacht sind, die alten Systeme aufzubauen und die Börsenkurse hoch zu halten. Ich würde das Leben, das verletzt und verängstigt, das an den Rand des Aushaltbaren gedrängt wurde, in die Gemeinschaft holen, damit es neue Kraft gewinnt und wieder zu blühen beginnen kann. Ich würde dafür eintreten, dass es nach Corona nicht vor allem darum geht, ob wir als erste überall hinreisen dürfen oder nicht, sondern darum, dass die Sorge um die anderen, wie es in den ersten Wochen von Corona war, die Herzen der Menschen durchdringt und die Schlagzeilen bestimmt.
Ich wünsche uns allen, dass wir uns nach den Erfahrungen derletzten Jahre auf die Seite des Lebens in allen seinen Formen stellen. Ich wünsche uns, dass wir der teuflischen Kultur des Todes – um beim Bild der heutigen Lesung (Weish 1, 13–15; 2, 23–24) zu bleiben – nicht verfallen und uns selbst nie zu Richtern über den Wert des Lebens machen. Und ich wünsche uns, dass wir selbst immer wieder erfahren, dass Gott nicht unseren Untergang will, sondern unser Heil, weil wir nach seinem Bild geschaffen zum unvergänglichen Leben berufen sind.
Slawomir Dadas Pfarrer