In den letzten Wochen habe ich mit etlichen Menschen über dieses bekannte Evangelium vom verlorenen Sohn (Lk 15, 1-3;11-32) gesprochen. Zusammengefasst: man kann es drehen und wenden wie man will, das, was hier ausgesagt wird, ist einfach ungerecht.
Da wird dieser nichtsnutzige, verschwenderische Typ, der alles vergeudet hat, wieder aufgenommen und fürstlich empfangen. So, als ob nie etwas gewesen wäre. Und der andere, der gehorsame, arbeitsame Brave wird vom Gutsherrn und Vater nicht einmal einbezogen ins Fest, wird nicht gefragt, bleibt unbeachtet, spielt keine Rolle.
Die Bezeichnungen Gutsherr oder Vater, sind in den Evangelien gewohnte Begriffe für Gott.
Und da stellt sich jetzt grundsätzlich die Frage: wie gerecht ist Gott. Oder überhaupt: ist Gott gerecht?
Schauen wir noch einmal genauer hin. Wir selber fühlen uns ja immer in der Rolle des älteren, des braven Sohnes. Aber wir sind in beiden Rollen, beide Rollen gehören zu uns. Wie wird es dem Jüngeren wirklich gegangen sein? Ein rücksichtsloser Verschwender, ein Prasser, ein Spieler, umgeben von einer mehr als zwielichtigen Gesellschaft, der nie auch nur einen Gedanken an die Familie oder die Mitmenschen verschwendet. Bis die Herrlichkeit zu Ende geht und er buchstäblich in der Gosse landet. Was wird in ihm vorgegangen sein, als er Zuflucht im Elternhaus sucht? Was würde ihn erwarten? Würde man ihn davonjagen oder doch aufnehmen, wenn vielleicht auch nur so als Verbrecher auf Bewährung. Und dann das. Kein Vorwurf, kein Wort über die Vergangenheit. Nichts als reine Liebe, die ihm begegnet. Wird er sein verfehltes Leben da nicht wie durch ein Vergrößerungsglas gesehen haben? Wie grauenhaft erbärmlich wird er sich da gefühlt haben. Strafe, mit der hätte er leben können, damit hätte er seine Schuld etwas abtragen können. Aber diese uneingeschränkte Liebe, wie soll er die ertragen? Musste er da nicht wie durch die Hölle gehen?
Mir ist der Gedanke gekommen, dieses Gleichnis könnte ganz wesentlich etwas mit uns zu tun haben – mit dem, was uns bevorsteht, wenn wir unser irdisches Leben beenden. Was uns bevorsteht beim sogenannten letzten Gericht.
Der jüngere und der ältere Bruder. Beides ist in uns. Wir werden wie der jüngere Bruder dieser ungeheuren, bedingungslosen Liebe Gottes gegenüber stehen, wir werden gewahr werden, wo wir diese Liebe überall verraten haben und was wir mit unserer Lieblosigkeit, unserer Missgunst, unserem Zorn, unserer Vergeltungssucht, unserer Gerechtigkeit alles angerichtet haben. Wie können wir unser Leben im Spiegel dieser Liebe Gottes ertragen? Kann es sein, dass jemand das nicht aushalten kann, daran zerbricht und die Gottesferne wählt.
Und wir werden, wie der ältere Bruder, damit klar kommen müssen, dass die Liebe Gottes auch persönlichen Feinden, Menschen, die uns das Leben schwer, manchmal unerträglich gemacht haben, zuteil wird. Und wir müssen damit klarkommen, dass die bedingungslose Liebe Gottes vielleicht sogar die ganz großen Weltverbrecher einschließt.
Ist Gott gerecht? Ja, Gott ist gerecht, auch wenn seine Gerechtigkeit für uns Menschen nur sehr schwer zu verstehen ist; weil bedingungslose Liebe für uns kaum zu begreifen ist.
Aber das einander Vergeben, das könnten wir jetzt schon üben.
Rudolf Bittmann Diakon