Liebe Schwestern, liebe Brüder,
es gibt viele verschiedene Gebetstheorien, Gebetsschulen, Gebetsformen und Gebetszeiten. Die meisten Gebete haben wir Daheim schon als Kinder und Jugendliche praktiziert. Bei mir waren das ein Morgengebet nach dem Aufstehen, bevor ich ins Bad gegangen bin und ein Abendgebet, kurz vor dem Schlafengehen. Bei einigen gibt es ein Tischgebet vor dem Essen, ein Bekreuzen des Brotes vor dem Anschneiden oder einen Segen mit dem Weihwasser vor einer längeren Reise. Neben den privaten Gebetsformen, die unsere persönliche Beziehung zu Gott zum Ausdruck bringen, gibt es natürlich auch das gemeinsame Gebet, das in Formen der Gottesdienste wie Eucharistie, Wortgottesfeier oder als eine thematische Andacht gefeiert wird.
Die liturgischen Texte laden uns heute dazu ein, über das Gebet nachzudenken. Ich möchte es aus dem Aramäischen – also aus der Sprache Jesu – mit Rocco Errico (Das aramäische Vaterunser) deuten. Dort wird das Gebet sinngemäß von „fangen“, „eine Falle stellen“, „einschalten“ oder „einstellen“ abgeleitet.
Man kann also sagen: Das Gebet bedeutet eine Haltung einzunehmen, die uns ermöglicht, die Gedanken Gottes zu fangen, den Gedanken Gottes eine Falle zu stellen, oder den Sender Gottes einzuschalten. Beim Gebet geht es also nicht zuerst darum, Gott die eigene Geschichte mit allen Sorgen und Ängsten zu erzählen, sondern die Gedanken Gottes im Bezug zu meinem Leben einzufangen. Es bedeutet, Gott in meinem Leben einzuschalten und seine Lautstärke so einzustellen, dass ich ihn gut hören kann, mitten in meinem Leben mit allem, was mir Freude, aber auch Sorgen bereitet. Beim Gebet geht es also zuerst nicht um äußere Haltungen, ob ich sitze, stehe, knie oder gehe. Beim Gebet geht es zuerst um die innere Grundhaltung, die uns hilft, Gottes Sendung einzuschalten und dadurch ihm einen entscheidenden Platz im eigenen Leben zu geben.
Aber jetzt zu der Gebetsschule Jesu, zum Vaterunser-Gebet.
Das Vaterunser ist ein besonderes Gebet, nicht nur, weil es von Jesus stammt, sondern weil es in seinem Ausdruck und Aufbau auf Gott ausgerichtet ist, aber den Menschen nicht aus den Augen verliert. Mit dem Wort Vater will Jesus seine Beziehung zu Gott als Vorbild für die Jünger machen. Er selbst lebt mit Gott eine innige Verbindung, Gott ist für ihn kein Entfernter, kein Herrscher der Welt, dem man mit ängstlicher Anbetung begegnet. Gott ist der fürsorgliche und liebende Vater, der seine Kinder vor allem mit Barmherzigkeit und Heil beschenkt. Der Begriff Vater macht auch deutlich, dass für Jesus die neue Gemeinschaft eine Familie ist: Menschen, die füreinander Sorge tragen, weil sie durch Gott verbunden sind.
Der Name Gottes ist heilig, weil er selbst heilig ist. Von Gott geht das Heil aus und er möchte uns Anteil daran geben. Und wenn wir beten: Dein Reich komme, dann hoffen wir auf die Zeit des Friedens und der Gerechtigkeit, die allen Menschen zuteil werden soll. Das Reich Gottes hat mit Macht, mit Gewalt, mit Beherrschung nichts zu tun. Das Reich Gottes ist nicht das Ergebnis der Verhandlungen und nicht eine Kompromisslösung der Einflussreichen. Es ist ein Geschenk Gottes, das man annehmen und im eigenen Leben umsetzen kann, so dass es weitere Kreise zieht.
Die letzten Bitten, die sich auf die Sorge um das tägliche Leben beziehen, möchte ich mit der klassischen Märchenfrage beginnen: Du hast drei Wünsche frei, was möchtest Du gerne haben? Die Antwort ist aus der Sicht Jesu ganz deutlich. Die Kinder Gottes lechzen nicht nach Reichtum, nicht nach Ruhm und nicht nach einem langen Leben. Die drei Wünsche sind: das Nötige für den Alltag, um nicht in den Sorgen der Welt Gott aus den Augen zu verlieren, die Vergebung der Sünden, damit man als eine versöhnte Gemeinschaft miteinander leben kann und Fernhalten von der Versuchung, die als Beginn jedes Übels, jedes Abfalls vom Glauben gilt.
Liebe Schwestern, liebe Brüder,
das Vaterunser-Gebet ist nicht nur kurz, bündig und auf das Wesentliche ausgerichtet, sondern es verpflichtet. Ich wünsche uns allen, dass wir uns immer als eine Familie Gottes verstehen, die den Menschen hilft, Gott in ihrem Leben zu entdecken. Ich wünsche uns, dass wir nicht nur vom Reich Gottes träumen und darauf warten, sondern dass wir dafür eintreten und aus der liebenden und heilenden Kraft Gottes unser Leben gestalten.
Slawomir Dadas Pfarrer